Interview
Als Film-Bösewicht ist Christoph Waltz legendär. Jetzt inszeniert er in Genf Richard Strauss’ Oper «Der Rosenkavalier» und spricht hier exklusiv über den Antisemitismus in seiner Kindheit und Neurosen als Familienerbe.
Anna Kardos und Denise Bucher, Genf
9 min
«NZZ am Sonntag»: Christoph Waltz, finden Sie Filme langweilig?
Christoph Waltz: Wie kommen Sie auf die Idee?
Weil Sie nach über 120 Filmen und zwei Oscars angefangen haben, Opern zu inszenieren.
Aber nicht aus Langeweile! Ich fand die Oper, also eine Geschichte, eingebettet in Musik, schon immer eine ganz herausragend interessante Angelegenheit. Natürlich könnte ich dieses Medium zu Hause auf der Couch und mit Textbuch verfolgen. Aber mich interessiert immer die Aktivität, das Machen. Deswegen bin ich noch kein Opernregisseur. Davon gibt es ja genügend grossartige.
Warum also inszenieren Sie Opern?
Man redet immer von Absicht und Ansatz, aber man muss auch die Chance bekommen, das umzusetzen. Und Aviel Cahn, der Intendant des Grand Théâtre de Genève, hat jemanden gesucht, der stringent eine Geschichte erzählen kann. Er hat mich nicht gefragt, weil er ein unglaublich innovatives Konzept erwartet hat, das die Oper revolutionieren wird.
Sie hatten sich in einem Gespräch mit Daniel Barenboim als «conservative fart», also als konservativen Sesselpupser, bezeichnet. Ist das eine gute Ausgangslage, um 2023 eine Oper zu inszenieren?
Ich habe das gesagt, weil ich mit einigem Interesse verfolge, wie sich im Kulturbetrieb eine neue Konvention etabliert hat. Schauen Sie, das Bilderstürmen ist längst erledigt. Alle Texte sind dekonstruiert. Im Prinzip sind fast alle theoretischen Ansätze erschöpft. Wos machmer jetzt?
Christoph Waltz
Der eleganteste aller Bösewichte
1956 in Wien geboren, wuchs Waltz in einer Familie von Theatermachern und Psychoanalytikern auf; er hat denselben Stiefvater wie der Regisseur Michael Haneke. Waltz studierte Gesang und Schauspiel. Für «Inglourious Basterds» und «Django Unchained» von Quentin Tarantino gewann er je einen Oscar. Seither kennt man ihn als kühl-eleganten Bösewicht.
Sagen Sie es uns.
Wer für sich in Anspruch nimmt, bilderstürmerisch oder unkonventionell zu sein, fügt sich nur dieser neuen Konvention. Und als Zuschauer bin ich dann enttäuscht, weil ich das schon vorher geahnt habe.
Das klingt nicht konservativ. Unter konservativ würde ich mir vorstellen, dass man etwas erhält, wie es ist.
Darf ich sehr unhöflich sein: So stellen Sie sich’s halt vor. Worte sind mit Bedeutungen besetzt, und an diesen hängen wir.
Wie stellen Sie es sich denn vor?
Für mich muss ein Werk in seiner Form nicht neu sein. Es geht um den Zuschauer. Das Werk soll es ihm möglich machen, eine kleine Lücke in seiner für sich so schön zurechtgezimmerten Vorstellung zu finden und dort ein bisschen Licht durchscheinen zu lassen. Zurücklehnen und mich bedienen lassen tu ich lieber in der «Kronenhalle», das kostet genauso viel und dauert genauso lange.
Richard Strauss’ «Rosenkavalier» bewegt sich in einer Zeit-Schizophrenie. Es wird eine Vergangenheit imaginiert, aber mit Walzerklängen, die es damals so noch nicht gab, und es geht um Themen, die heute aktuell sind, etwa #MeToo. Worauf sind Sie aus?
Was in der Geschichte schon drinsteckt, muss ich nicht verfolgen, es steckt ja drin. Und ich möchte ungern von mir behaupten, ich sei so viel klüger als Hugo von Hofmannsthal oder Richard Strauss, dass ich der Sache auf die Sprünge helfen müsste. Obwohl ich, was Hofmannsthal betrifft, nicht das bin, was man Fan nennt. Das Jahr, in dem der «Rosenkavalier» aufgeführt wurde, war das Jahr, in dem Schönbergs «Pierrot Lunaire» entstand. Hofmannsthal hat da noch ein bisschen in Kakanien geschwelgt.
In der k. u. k. Monarchie war die kulturelle Identität Wiens sehr jüdisch geprägt. Es war die Zeit von Sigmund Freud, Karl Kraus, Oskar Kokoschka, Joseph Roth. Gab es in Wien dadurch weniger Antisemitismus?
Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe in Wien selber als Schulkind antisemitische Dinge erlebt. Nur wurden die in den 1960er Jahren nicht problematisiert. Ich hatte einen Lehrer, der meinem besten Freund in der Geografiestunde gesagt hat, er solle seine blöden jüdischen Witze lassen. Damals hat sich niemand empört. Der Lehrer war eben ein alter Nazi und ein Trottel, das hat man gewusst. Auch meinen Freund hat das überhaupt nicht gejuckt. Es hat mich mehr gejuckt als ihn.
Weil die Mutter Ihres eigenen Vaters jüdisch war?
Nein. Keiner hat seine Identität an Erniedrigungen festgemacht. Die wurde nicht angekratzt.
Woran hat man Identität festgemacht? An der Familie? Ihr Grossvater, Rudolf Urbantschitsch, war Psychoanalytiker, Ihre Grossmutter Schauspielerin.
Eine Psyche, speziell eine kindliche Psyche, wird mit Begriffen besetzt, die dieses Gehirn nicht alleine produziert hat. Das ist unausweichlich. So formen wir unsere Persönlichkeit und unsere Identität. Das ist aber eine andere als eine durch äussere Umstände bewusst und mit Absicht angenommene.
Das müssen Sie etwas genauer erklären.
Ich meine, in dieser heutigen Identitätspolitik geht es nicht wirklich um Identität. Sie ist identitär. Ich habe das jetzt nicht gründlich überlegt, aber ich sage es trotzdem: Es geht eher um eine Agenda als um eine Identität.
Seit dem Ausbruch des Nahostkonflikts am 7.Oktober gibt es in der deutschen Kulturszene den Zwang, sich zu positionieren.
Dieser Zwang ist verwandt mit dem Formieren einer neuen Konvention, von der wir vorhin sprachen. Es fragt keiner genau nach, es interessiert sich auch keiner für die Fakten. Aber alle wollen etwas darstellen. Weil sie nicht genau wissen, was, stellen sie sich eben selber dar. Und da sie damit nicht allzu viel zur Verfügung haben, wird das umso lautstarker und extremer gemacht. Das ist eine tragische Entwicklung, die unbedingt auf das Sinken des Bildungsstandards zurückzuführen ist.
Deshalb machen Sie sich Sorgen um den Zustand unserer Kultur?
Das Urteilsvermögen des Betrachters wird behindert. Nur über das Urteilsvermögen des Betrachters können wir Fortschritt machen.
Ihr Grossvater hat den Satz geprägt: «Die Neurose ist das Wappen der Kultur.» Hatte er recht?
Ich glaube, das ist ein «sound bite», der schon damals zur Vermarktung gedient hat. Mit dieser Meinung komme ich mit meinen Geschwistern ins Gehege, die der Sache mit mehr Ehrfurcht begegnen. Mein Grossvater hat zum Teil etwas kryptisch formuliert, nicht zuletzt deswegen, weil er damit seine nicht ganz wissenschaftliche Vorgangsweise übertünchen wollte.
Warum sehen Sie ihn kritisch?
Das war sein Konflikt mit Freud. Dass Freud gesagt hat, er sei nicht wissenschaftlich. Sie waren gemeinsam in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Mein Grossvater war gewissermassen ein Schüler von Freud. Aber wer war das zu jener Zeit in der Psychoanalyse nicht?
Gehörte und gehört es in Wien deshalb zum guten Ton, etwas neurotisch zu sein?
Darf ich sagen: Es gibt in Zürich mehr Psychotherapeuten und Psychoanalytiker als in Wien. Und zwar deutlich mehr.
Aber jeder Hobby-Freudianer hätte eine helle Freude an Ihnen, weil Sie zunächst eine Psychoanalytikerin geheiratet haben und dann eine Kostümbildnerin – was der Beruf Ihrer Mutter war.
Ja. Natürlich hat mich all das geprägt. Das hätte es auch, wenn mein Grossvater Schlosser gewesen wäre und meine Mutter Physikerin. Alles das, was einem passiert ist, prägt einen. Deshalb müssen wir alle ein bisschen vorsichtiger sein, was wir damit machen.
Wie meinen Sie das?
Weil wir nicht einfach die Opfer unserer Prägung sind. Wenn wir uns für eine bestimmte Materie interessieren, müssen wir die Angelegenheit verantwortungsvoll handhaben. Man hat Handlungsmöglichkeiten. Das gilt auch für den Antisemitismus. Der Antisemitismus ist eine ganz tiefe Krankheitsstelle in einer Gesellschaft. Das heisst aber nicht, dass es eine Tatsache ist, die man einfach hinzunehmen hat. Selbst dann, wenn man selber Antisemit sein sollte. Man könnte es auch sein lassen. Das steht einem zur Verfügung.
Überschätzen Sie uns Menschen nicht?
Die Frage wäre: Wie kann ich mich aus eigenem Antrieb zum Entschluss durchringen, dass es nicht nur für mich selber, sondern für die Allgemeinheit ungleich vorteilhafter wäre, es sein zu lassen?
Und wie soll das gelingen?
Keine Ahnung. Es ist die Aufgabe derer, die das schon erkannt haben, den anderen diese Möglichkeiten aufzuzeigen. Und zwar nicht als moralische Pflicht, sondern als eine praktische Möglichkeit. So wie kognitive Verhaltenstherapie funktioniert. Man sagt nicht: Du bist schlecht. Denn das ist – apropos Kindheit – der beste Weg, um Opposition und Neurosen zu erzeugen.
Hier müsste die Kunst eine Rolle spielen. Gerade das Massenmedium Film ist in der Jugend sehr prägend. Aber wenn die Schamgrenze fällt und das Bildungsniveau sinkt, was kann die Kunst noch ausrichten?
Ich fürchte, die Kunst kann gar nicht viel ändern. Und ich fürchte noch etwas Schlimmeres: Dazu ist die Kunst gar nicht gedacht.
Sondern?
Die Kunst ist ein Weg in eine Dimension, die wir auf anderem Weg nicht erreichen.
Aber dort könnte ja etwas geschehen mit mir, das mich daran erinnert: Sei das Individuum, das du zu sein glaubst. Und handle danach, statt so, wie eine Gruppe es dir vorgibt.
Da haben Sie natürlich recht. Die Kunst kann eine Perspektive eröffnen auf problematische Themen. Sie kann aber nicht agitieren, also die Dynamik umdrehen und didaktisch eingreifen.
Sie könnte, aber sie soll nicht.
Es kann nichts als vehemente Opposition erzeugen, wenn mir einer das Ding um die Ohren haut. Kunst kann mich als Zuschauer oder Zuhörer nur hereinbitten in diese Dimension, und ich muss mich da auch hineinwagen können. Die Veränderung ist dem Betrachter überlassen. Aber der Künstler kann bei mir keine solche erzwingen wollen.
Als Schauspieler müssen Sie darauf vertrauen, dass der fertige Film solche Türen öffnet. Es liegt sozusagen ausserhalb Ihrer Verantwortung, wie Ihre Rolle aufs Publikum wirkt.
Es ist aber meine Verantwortung, Ihnen eine Reaktion zu ermöglichen. Und zwar Ihre eigene und nicht etwas, das ich von Ihnen verlangen würde. Es ist eine grosse Verantwortung, mich nicht vor die Rolle und die Geschichte zu stellen und zu sagen: Sie haben mich, Christoph, toll zu finden. Sondern Platz zu machen – letzten Endes Ihnen. Aber das ist eine Sache, die momentan nicht gepflegt wird.
Ist Ihr herausragendes Merkmal als Schauspieler und Regisseur also Bescheidenheit?
Ich hätte jetzt fast eher Hochmut gesagt. Aber das ist es auch nicht. Aber bescheiden ist es keinesfalls.
Was dann?
Es ist eine völlig andere Überlegung: wie ich den Inhalt öffne. Und wie ich Sie hereinbitte in den Inhalt.
Vom Bond-Bösewicht Blofeld, den Sie spielten, möchte man eigentlich abgestossen sein, aber es gelingt nicht. Das ist so eine Reaktion.
Sie fragen sich, warum es Ihnen nicht gelingt, den Bösewicht nicht zu mögen? Ein grösseres Lob kann ich gar nicht bekommen. Weil Sie sich das fragen, aber nicht mich.
Sie würden es auch gar nicht beantworten.
Nein, ich weiss ja nicht, was Sie dazu führt.
Warum spielen Sie so gern diese elegant-unterkühlten Bösewichte?
Ich lebe das Böse ja nicht aus. Wenn ich einen Mörder spielte und das ausleben wollte, müsste ich jetzt jemanden umbringen gehen. Als Schauspieler synchronisiere ich mich mit einer Geschichte, wie Sie es tun, wenn Sie zum Beispiel einen Roman lesen.
Chrsitoph Waltz als Zwanzigjähriger im Kinderfernsehen «Am Dam Des»
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Sie haben Gesang studiert, Sie können Cello, Klavier, Saxofon und Gitarre spielen und wären beinahe Musiker geworden. Ist die emotionale, romantische Oper Ihr Ausgleich zu Ihren Bösewicht-Rollen?
Schon. Aber möglicherweise nicht aus den Gründen, die Sie genannt haben.
Weshalb dann?
Wegen der Musik. Was in ihr allein drinsteckt. Sie gibt dem Erzählten eine zusätzliche Dimension. Obwohl Strauss im Fall des «Rosenkavaliers» handwerklich möglicherweise nicht auf der Höhe seines Schaffens ist. Die Fans hatten ihn nach seiner «Elektra» für dieses Werk verdammt. Es sei zu banal. Nicht dass ich ein schlechtes Gewissen hätte – aber ich frage mich: Kann ich mir wirklich erlauben, so über Strauss zu reden?
Wieso nicht? Als Regisseur ist Strauss Ihr Arbeitsmaterial.
Nein, nicht Material, sondern Führung.
Das ist eine zu demütige Haltung.
Na, die erlaube ich mir, bitte. Danke. Das nehme ich in Anspruch. Möglicherweise stellt das ein Risiko dar, wenn ich die Quelle nicht infrage stelle. Aber ich glaube, so wie ich Sie in der Betrachtung hindere, wenn ich mich als Schauspieler vor eine Rolle stelle, behindere ich Sie in der Rezeption, wenn ich mich als Regisseur vor ein Werk stelle.
Sie sind gegen Interpretation?
Wenn ich der Sache einen Kontext aufdrücken wollte, von dem ich behaupte, dass ich der Einzige bin, der ihn erkennt, und Sie dazu nötigen wollte, diese Ansicht zu teilen, dann wäre das für mich als alten Praktiker, der ich mir eine Weltanschauung erarbeitet habe, als ob das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt würde.
Auch die Musik gibt eine Lesart vor.
Es gibt Regisseure wie Michael Haneke, die Musik in ihren Filmen ablehnen, weil sie sagen, sie sei eine Vorschrift an den Zuschauer, eine Fehlleitung in eine Emotionalität. Ein Film ohne Musik ist trotzdem ein Film. Wenn Sie der Oper die Musik wegnehmen, ist es keine Oper mehr.
Im «Rosenkavalier» ist Baron Ochs ein übler Schürzenjäger, aber er singt ganz lieb und naiv.
Unter der dreisten Annahme, dass Sie in einer Beziehung leben: Wenn Sie Ihren Partner manchmal an die Wand klatschen könnten, würde das heissen, dass Sie ihn in diesem Moment weniger lieben? Bestimmt nicht. Umgekehrt könnte es sein, dass Sie ihn gerade nicht ausstehen können, aber in Momenten hingerissen sind von einer Reaktion, einem Verhalten. Kein Mensch, der für sich in Anspruch nehmen möchte, Mensch zu sein, besteht aus nur einer Eigenschaft.
Und das finden Sie auch im «Rosenkavalier»?
Der «Rosenkavalier» ist ein so unglaublich psychologisch nuanciertes Stück, dass diese ganze Mozartkugelverpackung, in der wir es immer untergejubelt bekommen, nicht ansatzweise an die Dimension seiner Menschlichkeit herankommt.
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